Vote America ist eine gemeinnützige und unparteiische US-Organisation, die von Demokratie-, Wahl- und Technologieexperten (einschließlich der Gründer von Vote.org und Vote.gov) gegründet wurde, um US-Bürger*innen bei der Wahrnehmung ihrer Beteiligungsrechte zu unterstützen. Das gelang bei den Wahlen und Abstimmungen vom Herbst 2020 mit grossem Erfolg, wie das Vote America-Teammitglied Justin Jones im Gespräch (siehe unten) erklärt. Vote America wird von der Schweizer Demokratie Stiftung unterstützt.
"Im Vorfeld der Wahlen und Abstimmungen vom 3. November haben wir mit über 100 Millionen Textnachrichten mehr als 26 Millionen Stimmberechtigte erreicht", sagt Justin Jones im Interview mit dieser Stiftung.
Schweizer Demokratie Stiftung: Nachdem alle Stimmen der amerikanischen Wahlen ausgezählt sind und das «Electoral College» den neuen Präsidenten und die neue Vizepräsidentin gewählt haben, möchten wir mit Ihnen eine erste Bilanz dieser historischen Wahlen und Abstimmungen ziehen. Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse?
Justin Jones: Eine zentrale Erkenntnis aus diesen Wahlen und Abstimmungen ist es, dass es darauf ankommt auch jene Wähler*innen anzusprechen, welche traditionerllerweise eine geringe Beteiligung aufweisen. Dazu gehören 18- bis 29-Jährige, «People of Color» und unverheiratete Frauen. Diese Gruppen werden von den dominierenden parteipolitischen Gruppen oft ignoriert – was historisch auf eine Entmündigung dieser Wählerinnen und Wähler hinausgekaufen ist.
Wir haben in diesem Herbst diese Wählergruppen direkt angesprochen - sowohl über digitale als auch über analoge Medien - und Ihnen somit die Registrierung als Wählende und die Stimmabgabe erleichtert. Aus unserer Erfahrung wissen wir zudem, dass gezielte überparteiliche Botschaften erfolgreich sein können und langfristig zu einer höheren Beteiligung beitragen.
SDF: Ihre Organisation, Vote America, die wir von der Schweizer Demokratie Stiftung gefördert haben, war in diesem Jahr sehr aktiv. Können Sie uns ein paar Beispiele nennen, wie Sie praktisch gearbeitet haben - und welches die größten Erfolge und Misserfolge waren?
JJ: Für die Wahlen und Abstimmungen im November 2020 führte VoteAmerica eine umfassende Wählerregistrierungs- und GOTV-Kampagne durch, bei denen wir stark mit Daten aus früheren Wahlen arbeiteten. Dabei setzten wir auf Wähler-zu-Wähler--SMS, Direktwerbung, Campus-Medien, Plakatwände und die Kontaktnahme gegenüber der indigenen Bevölkerung.
- Das Studenten-Programm erreichte 2.732.258 Studierende an 241 Universitäten, darunter auch 94 der 107 historisch vor allem von Schwarzen besuchten Unis;
- Das SMS-Programm verschickte über 101 Milllionen Nachrichten an über 26 Milllionen Stimmberechtigte im ganzen Land.
- Wir stellten 1113 Plakatwände in drei Bundesstaaten auf und konnten damit über 13 Milllionen Menschen erreichen.
Nicht gerechnet hatten wir mit den gezielten politischen Angfriffen auf die US Post, welche die Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit der Postzustellung erheblich beeinträchtigten. Aufgrund dieser Entwicklung änderten wir unsere Strategie, weg von den Briefwählenden hin zu jenen, die selbst ihren Wahlzettel an der Urne abgaben.
SDF: Nach den Wahlen und Abstimmungen vom 3. November sprach der unterlegene Kandidat von Wahlbetrug und weigerte sich, die Resultate anzuerkennen. Alle gerichtlichen Überprüfungen haben jedoch gezeigt, dass diese Behauptungen ohne rechtliche Grundlage waren. Sind Sie überrascht, wie korrekt diese Wahlen letztlich ausgegangen sind?
JJ: Nicht wirklich, denn wir hatten stets Vertrauen darin, dass sich die Stärke unserer demokratischen Institutionen durchsetzen würde und dass unser Regierungssystem jegliche autokratischen Angriffe zur Unterwanderung des Volkswillens verhindern würde. Die Gewaltenteilung in unserer Verfassung hat sich einmal mehr bewährt.
SDF: Wo gibt es Verbesserungsbedarf im Wahl- und Abstimmungssystem der Vereinigten Staaten?
JJ: Wir brauchen ganz klar mehr Transparenz und Einheitlichkeit zwischen den verschiedenen Bundesstaaten. Heute kennt jeder Staat unterschiedliche Fristen bei der Registrierung, organisiert den Wahltag unterschiedlich und wendet bei der Identifikation der Stimmberechtigten ganz unterschiedliche Massstäbe an. Der amerikanischen Demokratie täte es sehr gut, wenn in einem föderalen Gesetz diese Verfahrensweisen verinheitlicht würden und alle Stimmberechtigten mit 18 Jahren automatisch registriert würden. .
SDF: Doch noch bevor ein neuer Präsident das Amt am 20. Januar übernehmen kann kommt es am 5. Januar im Bundesstaat Georgia zu einer Stichwahl für zwei Sitze im US-Senat. Dabei geht es auch darum, welche der beiden grossen Parteien dort künftig die Mehrheit hat. Ist Vote America bei dieser Wahl auch wieder aktiv?
JJ: Ja. Wir haben uns mit dem New Georgia Project zusammengeschlossen, um drei verschiedene Programme durchzuführen: SMS-Kampagne an einzelne Stimmberechtigte, GOTV Billboards und eine Helpline für Stimmberechtigte. Über die SMS informieren wir die Wähler*innen, wie sie sich für die Stichwahl registrieren und anschliessend abstimmen können. Wir werden fast vier Millionen Mitteilungen an gut 1,2 Stimmberechtigte versenden. Dazu werden wir 249 Plakatwände in Georgias ländlichen Gegenden aufstellen, wo es viele sogenannte Minderheitenwähler*innen gibt. Schließlich bietet unsere Stimmberechtigten-Helpline Unterstützung. Dabei kommen von uns geschulte Freiwillige zum Einsatz, die über alle wichtigen Aspekte des Wahlprozesses Bescheid wissen. Und wie immer informieren und unterstützen wir überparteilich.
[Dieses Gespräch führte Bruno Kaufmann Mitte Dezember 2020]
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[Im Vorfeld der Wahlen vom 3. November gab Justin Jones ebenfalls Auskunft über die Arbeit von VoteAmerica]
SDF: Können Sie die wichtigsten Herausforderungen in Zahlen und Worten beschreiben, vor denen Amerika in diesem Herbst steht, wenn es um die Wählerregistrierung und die tatsächliche Stimmabgabe geht?
JJ: Im Jahr 2016 waren fast 85% aller wahlberechtigten Amerikaner zur Stimmabgabe registriert, doch über 108 Millionen registrierte Amerikaner, die 47% der registrierten Wähler ausmachten, gaben keinen Stimmzettel ab. Die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner sind zwar registriert, aber fast die Hälfte übt dieses Recht nicht aus. Es geht also nicht einfach nur um die Registrierung, sondern um die faktische Wahlbeteiligung.
Die Probleme, denen sich die Wähler bei der Stimmabgabe gegenübersehen, reichen von einem Mangel an Wahllokalen (in einer Vorwahl im Juni in Kentucky mussten die Wähler stundenlang warten, da es nur ein Wahllokal für 600.000 Wähler gab) bis hin zu technischen Hindernissen. Ein Beispiel dafür ist die Anmeldung zur Briefwahl (VBM). Während man sich in 39 Bundesstaaten online als Wähler registrieren lassen kann, ist es nur in 14 Bundesstaaten und Washington DC möglich, sich online für die Briefwahl anzumelden. Die übrigen 26 Staaten erwarten von den Wählern, dass sie Formulare ausdrucken und per Post schicken. Dies ist eine anachronistische Forderung im Jahr 2020: Seit 2011 liegt der Besitz von Hausdruckern im niedrigen einstelligen Bereich, und die Mehrheit der Amerikaner hat zu Hause keine Briefmarken. Jemanden zu bitten, im Jahr 2020 Formulare zu drucken und zu versenden, ist eine hohe Hürde und drückt auf die Wahlbeteiligung.
SDF: Die US-Regierung hat wiederholt die Fairness der Briefwahl in Frage gestellt. Wo liegen die Probleme? Und wo gibt es Lösungen?
JJ: Die briefliche Stimmabgabe ist seit dem amerikanischen Bürgerkrieg möglich und seither sind Milliarden von Stimmzettel per Post eingereicht worden. Unzählige Studien, die über Jahrzehnte durchgeführt wurden, haben gezeigt, dass die Briefwahl keiner Partei gegenüber der anderen Vorteile bringt und dass Betrug praktisch nicht existiert. Laut einer aktuellen Analyse der Washington Post wurden bei den Wahlen 2016 und 2018 nur 0,0025 Prozent der Stimmen als möglicherweise betrügerisch eingestuft. Bei 250 Millionen abgebenen Briefwahlstimmen in den letzten zwanzig Jahren gab es gerade einmal 143 strafrechtliche Verfahren im Zusammenhang mit betrügerischen Briefwahlen. Trotzdem wird manchmal immer noch behauptet, dass das briefliche Abstimmen unsicher und unfair sei.
Aufklärung ist das wirksamste Gegenmittel gegen diese unbegründeten Angriffe. Organisationen wie VoteAmerica haben proaktiv Kontakt zu den Wählern mit unparteiischen Botschaften aufgenommen, in denen die Sicherheit und Zugänglichkeit des VBM hervorgehoben wird. Unsere Bemühungen werden durch jahrelange A/B-Tests untermauert, die zeigen, dass die Wähler am positivsten auf unparteiische, unkomplizierte Informationsbotschaften reagieren. Wir werden diese Bemühungen in den verbleibenden Wochen fortsetzen, indem wir Millionen von Wählern kontaktieren und sie wissen lassen, dass sie per Post abstimmen können und dass ihr Stimmzettel ausgezählt wird.
SDF: Was sind die Schlüssel, um die Demokratie und die Wahlen in Amerika demokratischer zu gestalten?
JJ: Die Strategie von VoteAmerica beruht auf einem einfachen Konzept: dass die Amerikanerinnen und Amerikaner fleissiger mitbestimmen je einfacher es ist, sich an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen. Wir lehnen die Idee rundheraus ab, dass eine niedrige Wahlbeteiligung auf eine Apathie der Wähler zurückzuführen sei, und erkennen stattdessen an, dass eine niedrige Wahlbeteiligung das Ergebnis einer jahrzehntelangen absichtlichen Unterdrückung der Wähler ist, die speziell darauf abzielt, die Wahlbeteiligung der wirtschaftlich und sozial am stärksten marginalisierten Amerikaner zu verringern. Stattdessen setzen wir uns für Beseitung systematischer Hindernisse ein, die einer Stimmabgabe im Wege stehen können, weil wir wissen: Die Amerikaner wollen wählen und abstimmen.
SDF: Warum ist es wichtig, dass Organisation wie die Schweizer Demokratie Stiftung ihre Aktivitäten unterstützt?
JJ: Die Sicherheit und Zukunft unserer Welt und aller ihrer Bürgerinnen und Bürger hängt von funktionierenden Demokratien ab. Wie wir in unzähligen historischen Fällen gesehen haben, kann die Erosion demokratischer Institutionen in einem Land ein anderes Land anstecken. Wir sind der festen Überzeugung, dass der Schutz der amerikanischen Demokratie die Welt sicherer, stärker und kooperativer machen wird.
Wir sind allen mehr als dankbar, die bereit sind, unsere Arbeit zu unterstützen, um die amerikanische Demokratie integrativer, zugänglicher und fairer zu machen. Deshalb sind bestrebt, mit Demokratieförderern und -entwickeweiterhin Beziehungen in der ganzen Welt zusammen zu arbeiten und hoffen, dass wir uns gegenseitig inspirieren und motivieren können.